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Extra-Info: Zwangssterilisationen während der NS-Diktatur 1933 - 1945
Die nachfolgende Übersicht über den Ablauf des Verfahrens zur
Zwangssterilisation beruht auf einem ausgezeichneten und sehr informativen
Aufsatz von Astrid Ley, M.A. vom Institut für die Geschichte der Medizin
an der Universität Erlangen (s. Quellen).
Astrid Ley hat den Verfahrensablauf am Beispiel der Stadt Schwabach bei
Nürnberg untersucht und beschrieben. Da das ganze Prozedere bis in die Details
gesetzlich geregelt war, dürften diese Verfahren auch im restlichen Deutschland
so oder so ähnlich abgelaufen sein.
Hinweise auf weitere im Internet dokumentierte Fälle bitte per E-Mail
an mich.
- Die gesetzliche Grundlage:
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses
Gesetz vom 14. Juli 1933*
(Reichsgesetzblatt I S. 529)
Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet
wird:
§ 1
(1) Wer erbkrank ist, kann unfruchtbar gemacht
(sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft
mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an
schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden
Krankheiten leidet:
1. angeborenem Schwachsinn,
2. Schizophrenie,
3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
4. erblicher Fallsucht,
5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
6. erblicher Blindheit,
7. erblicher Taubheit,
8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.
§ 2
(1) Antragsberechtigt ist derjenige, der
unfruchtbar gemacht werden soll. Ist dieser geschäftsunfähig oder wegen
Geistesschwäche entmündigt oder hat er das achtzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet, so ist der gesetzliche Vertreter antragsberechtigt; er bedarf dazu
der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. In den übrigen Fällen beschränkter
Geschäftsfähigkeit bedarf der Antrag der Zustimmung des gesetzlichen
Vertreters. Hat ein Volljähriger einen Pfleger für seine Person erhalten, so
ist dessen Zustimmung erforderlich.
(2) Dem Antrag ist eine Bescheinigung eines für das Deutsche Reich approbierten
Arztes beizufügen, daß der Unfruchtbarzumachende über das Wesen und die
Folgen der Unfruchtbarmachung aufgeklärt worden ist.
(3) Der Antrag kann zurückgenommen werden.
§ 3
Die Unfruchtbarmachung können auch beantragen
1. der beamtete Arzt,
2. für die Insassen einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt oder einer
Strafanstalt der Anstaltsleiter.
§ 4
Der Antrag ist schriftlich oder zur Niederschrift
der Geschäftsstelle des Erbgesundheitsgerichts zu stellen. Die dem Antrag zu
Grunde liegenden Tatsachen sind durch ein ärztliches Gutachten oder auf andere
Weise glaubhaft zu machen. Die Geschäftsstelle hat dem beamteten Arzt von dem
Antrag Kenntnis zu geben.
§ 5
Zuständig für die Entscheidung ist das
Erbgesundheitsgericht, in dessen Bezirk der Unfruchtbarzumachende seinen
allgemeinen Gerichtsstand hat.
§ 6
(1) Das Erbgesundheitsgericht ist einem
Amtsgericht anzugliedern. Es besteht aus einem Amtsrichter als Vorsitzenden,
einem beamteten Arzt und einem weiteren für das Deutsche Reich approbierten
Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut ist. Für jedes
Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen.
(2) Als Vorsitzender ist ausgeschlossen, wer über einen Antrag auf
vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 2 Abs. 1 entschieden hat. Hat ein
beamteter Arzt den Antrag gestellt, so kann er bei der Entscheidung nicht
mitwirken.
§ 7
(1) Das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht
ist nicht öffentlich.
(2) Das Erbgesundheitsgericht hat die notwendigen Ermittelungen anzustellen; es
kann Zeugen und Sachverständige vernehmen sowie das persönliche Erscheinen und
die ärztliche Untersuchung des Unfruchtbarzumachenden anordnen und ihn bei
unentschuldigtem Ausbleiben vorführen lassen. Auf die Vernehmung und Beeidigung
der Zeugen und Sachverständigen sowie auf die Ausschließung und Ablehnung der
Gerichtspersonen finden die Vorschriften der Zivilprozeßordnung sinngemäße
Anwendung. Ärzte, die als Zeugen oder Sachverständige vernommen werden, sind
ohne Rücksicht auf das Berufsgeheimnis zur Aussage verpflichtet. Gerichts- und
Verwaltungsbehörden sowie Krankenanstalten haben dem Erbgesundheitsgericht auf
Ersuchen Auskunft zu erteilen.
§ 8
Das Gericht hat unter Berücksichtigung des
gesamten Ergebnisses der Verhandlung und Beweisaufnahme nach freier Überzeugung
zu entscheiden. Die Beschlußfassung erfolgt auf Grund mündlicher Beratung mit
Stimmenmehrheit. Der Beschluß ist schriftlich abzufassen und von den an der
Beschlußfassung beteiligten Mitgliedern zu unterschreiben. Er muß die Gründe
angeben, aus denen die Unfruchtbarmachung beschlossen oder abgelehnt worden ist.
Der Beschluß ist dem Antragsteller, dem beamteten Arzt sowie demjenigen
zuzustellen, dessen Unfruchtbarmachung beantragt worden ist, oder, falls dieser
nicht antragsberechtigt ist, seinem gesetzlichen Vertreter.
§ 9
Gegen den Beschluß können die im § 8 Satz 5
bezeichneten Personen binnen einer Notfrist von 14 Tagen nach der Zustellung
schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des
Erbgesundheitsgerichts Beschwerde einlegen. Die Beschwerde hat aufschiebende
Wirkung. Über die Beschwerde entscheidet das Erbgesundheitsobergericht. Gegen
die Versäumung der Beschwerdefrist ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in
entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung zulässig.
§ 10
(1) Das Erbgesundheitsobergericht wird einem
Oberlandesgericht angegliedert und umfaßt dessen Bezirk. Es besteht aus einem
Mitglied des Oberlandesgerichts, einem beamteten Arzt und einem weiteren für
das Deutsche Reich approbierten Arzt, der mit der Erbgesundheitslehre besonders
vertraut ist. Für jedes Mitglied ist ein Vertreter zu bestellen. § 6 Abs. 2
gilt entsprechend.
(2) Auf das Verfahren vor dem Erbgesundheitsobergericht finden §§ 7, 8
entsprechende Anwendung.
(3) Das Erbgesundheitsobergericht entscheidet endgültig.
§ 10a
(1) Hat ein Erbgesundheitsgericht rechtskräftig
auf Unfruchtbarmachung einer Frau erkannt, die zur Zeit der Durchführung der
Unfruchtbarmachung schwanger ist, so kann die Schwangerschaft mit Einwilligung
der Schwangeren unterbrochen werden, es sei denn, daß die Frucht schon lebensfähig
ist oder die Unterbrechung der Schwangerschaft eine ernste Gefahr für das Leben
oder die Gesundheit der Frau mit sich bringen würde.
(2) Als nicht lebensfähig ist die Frucht dann anzusehen, wenn die Unterbrechung
vor Ablauf des sechsten Schwangerschaftsmonats erfolgt.
§ 11
(1) Die Unfruchtbarmachung hat im Wege des
chirurgischen Eingriffs zu erfolgen. Die Reichsminister des Innern und der
Justiz bestimmen, unter welchen Voraussetzungen auch andere Verfahren zur
Unfruchtbarmachung angewandt werden können.
(2) Der zur Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung notwendige ärztliche
Eingriff darf nur in einer Krankenanstalt von einem für das Deutsche Reich
approbierten Arzt ausgeführt werden. Dieser darf den Eingriff erst vornehmen,
wenn der die Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung anordnende
Beschluß endgültig geworden ist. Die oberste Landesbehörde bestimmt die
Krankenanstalten und Ärzte, denen die Ausführung der Unfruchtbarmachung und
Schwangerschaftsunterbrechung überlassen werden darf. Der Eingriff darf nicht
durch einen Arzt vorgenommen werden, der den Antrag gestellt oder in dem
Verfahren als Beisitzer mitgewirkt hat.
(3) Der ausführende Arzt hat dem beamteten Arzt einen schriftlichen Bericht über
die Ausführung der Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung unter
Angabe des angewendeten Verfahrens einzureichen.
§ 12
(1) Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig
beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen,
sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei
der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere
Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.
(2) Ergehen sich Umstände, die eine nochmalige Prüfung des Sachverhalts
erfordern, so hat das Erbgesundheitsgericht das Verfahren wieder aufzunehmen und
die Ausführung der Unfruchtbarmachung vorläufig zu untersagen. War der Antrag
abgelehnt worden, so ist die Wiederaufnahme nur zulässig, wenn neue Tatsachen
eingetreten sind, welche die Unfruchtbarmachung rechtfertigen.
§ 13
(1) Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens trägt
die Staatskasse.
(2) Die Kosten des ärztlichen Eingriffs trägt bei den der Krankenversicherung
angehörenden Personen die Krankenkasse, bei anderen Personen im Falle der
Hilfsbedürftigkeit der Fürsorgeverband. In allen anderen Fällen trägt die
Kosten bis zur Höhe der Mindestsätze der ärztlichen Gebührenordnung und der
durchschnittlichen Pflegesätze in den öffentlichen Krankenanstalten die
Staatskasse, darüber hinaus der Unfruchtbargemachte.
§ 14
(1) Eine Unfruchtbarmachung oder
Schwangerschaftsunterbrechung, die nicht nach den Vorschriften dieses Gesetzes
erfolgt, sowie eine Entfernung der Keimdrüsen sind nur dann zulässig, wenn ein
Arzt sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst zur Abwendung einer ernsten
Gefahr für das Leben oder die Gesundheit desjenigen, an dem er sie vornimmt,
und mit dessen Einwilligung vollzieht.
(2) Eine Entfernung der Keimdrüsen darf beim Manne mit seiner Einwilligung auch
dann vorgenommen werden, wenn sie nach amts- oder gerichtsärztlichem Gutachten
erforderlich ist, um ihn von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien, der
die Begehung weiterer Verfehlungen im Sinne der §§ 175 bis 173, 183, 223 bis
226 des Strafgesetzbuchs befürchten läßt. Die Anordnung der Entmannung im
Strafverfahren oder im Sicherungsverfahren bleibt unberührt.
§ 15
(1) Die an dem Verfahren oder an der Ausführung
des ärztlichen Eingriffs beteiligten Personen sind zur Verschwiegenheit
verpflichtet.
(2) Wer der Schweigepflicht unbefugt zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu
einem Jahre oder mit Geldstrafe bestraft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag
ein. Den Antrag kann auch der Vorsitzende stellen.
§ 16
(1) Der Vollzug dieses Gesetzes liegt den
Landesregierungen ob.
(2) Die obersten Landesbehörden bestimmen, vorbehaltlich der Vorschriften des
§ 6 Abs. 1 Satz 1 und des § 10 Abs. 1 Satz 1, Sitz und Bezirk der
entscheidenden Gerichte. Sie ernennen die Mitglieder und deren Vertreter.
§ 17
Der Reichsminister des Innern erläßt im
Einvernehmen mit dem Reichsminister der Justiz die zur Durchführung dieses
Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.
§ 18
Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 1934 in Kraft.
*) Fassung vom 4. Feb. 1936 (Reichsgesetzbl. I S. 119).
Quellen:
- Astrid LEY: Zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Die Zwangssterilisation in
Schwabach 1933 - 1945 und ihre Opfer. In: Sabine Weigand-Karg, Sandra
Hoffmann, Jürgen Sandweg (Hg.): Vergessen und verdrängt? Schwabach 1918 -
1945. Schwabach 1997, 123 - 127
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