Leserbrief des Historikers Christoph Braß, Stuttgart an die Saarbrücker Zeitung. Ich danke Herrn Braß, dass er mir seinen Leserbrief zur Zweitveröffentlichung im Internet zur Verfügung gestellt hat.
Herr Braß, Autor der Magisterarbeit über die Zwangssterilisationen im Saarland, mit der die Sache Dr. Orth eigentlich ins Rollen kam, veröffentlichte diesen Leserbrief am 2. April in der SZ und reagierte damit auf den von einigen Leserbriefschreibern geäußerten Hinweis, er habe seine bisherige Position in Sachen Dr. Orth "relativiert".
"In
der gegenwärtigen Debatte um die Umbenennung der Oskar-Orth-Straße in Ensheim
wird von Mitgliedern der CDU behauptet, ich hätte meine Forschungsergebnisse
aus dem Jahr 1992 über Zwangssterilisationen im Dritten Reich
“relativiert”. Dies ist in der Tat der Fall. Allerdings trägt diese
“Relativierung” keineswegs zur Ehrenrettung von Oskar Orth bei.
Als
Bezirksbürgermeisterin* Hübinger sich Mitte Februar telefonisch bei mir
meldete, habe ich ihr mitgeteilt, dass sich in zwei Punkten neue Erkenntnisse
ergeben haben: Erstens: Zusätzlich zu den 630 Zwangssterilisationen an Frauen,
die 1992 nachweisbar waren, haben sich zwischenzeitlich Belege dafür gefunden,
dass im Landeskrankenhaus Homburg, das von Oskar Orth geleitet wurde, außerdem
auch mindestens 800 Männer sterilisiert wurden. Zweitens: Ich habe Frau Hübinger
darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage, ob Prof. Orth auch eigenhändig
Sterilisationen durchgeführt hat, die 1992 noch nicht mit letzter Sicherheit
beantwortet werden konnte, mittlerweile geklärt ist: Am 3. März 1994 hat der
Wissenschaftsausschuss des saarländischen Landtages auf der Grundlage von
vorher nicht zugänglichem Aktenmaterial festgestellt, dass Orth persönlich
Sterilisationen ausgeführt hat.
Ob
und in welcher Form Frau Hübinger diese Informationen an ihren Bezirksrat*
weiter gegeben hat, ist mir nicht bekannt.
Als
Christdemokrat finde ich es bedauerlich, dass meine Ensheimer Parteifreunde in
ihrer Argumentation offenbar keinen Gedanken auf die Opfer der Zwangssterilisation
verwenden. Ich habe vor einigen Jahren nicht weit entfernt von Ensheim eine ältere
Frau kennen gelernt, die in Homburg zwangssterilisiert wurde, weil sie und ihr
Kind Brillenträger waren. Die Nazis interpretierten diesen Umstand als
graduelle Form von “erblicher Blindheit”. Was müssen Menschen wie diese
Frau angesichts der aktuellen Debatte in Ensheim denken?
Es
ist heute unbestritten, dass die Zwangssterilisationen des Dritten Reiches, die
sich auch gegen politisch missliebige und sozial auffällige Menschen richteten,
ein großes Unrecht waren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das
eindrucksvolle Schuldbekenntnis der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe von 1994, das jedoch von den Ensheimer Christdemokraten offenbar
ebenso wenig zur Kenntnis genommen wurde wie die Tatsache, dass die katholische
Kirche den Sterilisationsgedanken schon 1930 in der Enzyklika “Casti
Connubii” geächtet hatte.
Auch
wenn einige meiner Parteifreunde es vielleicht anders sehen: Es geht in dieser
Debatte nicht primär um die Frage, ob Orth eine juristische Schuld nachzuweisen
ist, sondern vor allem darum, ob die Ensheimerinnen und Ensheimer wollen, dass
dieser Arzt, der in die Rassenpolitik der Nazis verstrickt war und großes Leid
über viele Menschen gebracht hat, der Nachwelt weiterhin als positive
Identifikationsfigur vermittelt werden soll oder nicht."
Christoph
Braß
Sollte jemand mit der Zweitveröffentlichung im Internet nicht einverstanden sein, bitte ich um kurze Nachricht per E-Mail.
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| Last update: 17.07.2018 | Copyright: Paul Glass 1997-2018 |