ENSHEIM Homepage


2.6 Das politisch-kulturelle Leben in Ensheim im Überblick


Extra-Info: Die Debatte um die Oskar-Orth-Straße in Ensheim


Ein Feature von Anke Schäfer. 

Eine Sendung des Saarländischen Rundfunks, SR 2, Kulturradio, am 10. August 2001 [Dauer: 30 min]

(Abschrift des Hörfunkbeitrags; Interviewbeiträge werden kursiv wiedergegeben; Passagen in eckigen Klammern sind Zusätze von mir; PG)

Sie hören heute: Vertuschungsgeschichte. Der lange Weg zur Umbenennung der Oskar-Orth-Straße. Ein Feature von Anke Schäfer.

[Szene aus der Sitzung des Bezirksrates Halberg am 8. August 2001, Beitrag von Bezirksbürgermeisterin Anette Hübinger]

... So können wir das ganze in einem ... einem Abstimmungsgang beschließen, dass der Beschluss vom 9. 5. aufgehoben wird und die Oskar-Orth-Straße in Spitalstraße rückbenannt werden soll. Wer ist dafür? 13 dafür. Wer ist dagegen? Wer enthält sich der Stimme? Ich bedanke mich.

8. August 2001. Der Bezirksrat Halberg entscheidet unter Vorsitz der Bezirksbürgermeisterin Anette Hübinger, dass die Oskar-Orth-Straße in Saarbrücken-Ensheim wieder ihren alten Namen erhalten soll: Spitalstraße.

[Stellungnahme von Kajo Breuer, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Saarbrücker Stadtrat]

Ich finde das gut. Aus welchen Motiven auch immer das geschehen ist. Es ist gut, äh, wenn hier, äh, ein symbolischer Akt, äh, vorgenommen wird, der deutlich macht, dass man, äh, mit solchen Taten, die mit der NS-Zeit unmittelbar verbunden sind, äh, von Täterseite aus, nichts zu tun haben möchte und von daher finde ich diese Entscheidung gut.

Kajo Breuer, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Saarbrücker Stadtrat, in dem die CDU, gemeinsam mit den Grünen, die Mehrheit hat. Die Grünen waren eine treibende Kraft bei dieser schwierigen Straßenumbenennung, doch streng genommen hat Kajo Breuer hier gar nichts zu sagen. Denn Ensheim gehört zwar seit der Gebietsreform 1974 zu Saarbrücken; über die Benennung von Straßen aber entscheidet nicht der Stadtrat, sondern der Bezirksrat. Und zweimal hat der sich schon gegen die Umbenennung der Straße entschieden, jedesmal unter dem Vorsitz der Halberger Bezirksbürgermeisterin Anette Hübinger (CDU), die lange gegen die Umbenennung war.

[Stellungnahme Anette Hübinger]

Meine Meinung ist immer: Man muss der Sache auf den Grund gehen und wenn er sich schuldig gemacht hat, wenn diese Behauptungen stimmen, was sich jetzt ja auch realisiert, dann kann er im öffentlichen Raum nicht mehr diese Ehre bekommen. Aber man muss sich der Sache stellen, man muss sich Zeit nehmen, die Straße existiert seit 71 Jahren, und wenn der Bürger Bedarf zur Diskussion hat, und dann muss man ihm auch diese Diskussionsmöglichkeiten geben und Aufklärungsmöglichkeiten bieten.

Der Bürger in Ensheim hatte Bedarf zur Diskussion und die Bezirksbürgermeisterin sah das ein - obwohl spätestens seit März 1994, seit über sieben Jahren also klar ist, dass Oskar Orth in die Rassenpolitik der Nationalsozialisten verstrickt war, dass er sich moralisch schuldig gemacht hat, indem er das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses umgesetzt hat. Von 1ß22 bis zu seiner Pensionierung 1947 war Oskar Orth der Leiter des Landeskrankenhauses in Homburg und als solcher von den Jahren von 1933 bis 1939 verantwortlich für mindestens 1430 Zwangssterilisationen. Eine Zahl, die sich - es sei hier gleich gesagt - aus mehreren Quellen belegen lässt. Christoph Braß, Historiker aus dem Saarland, heute Referent der CDU-Landesregierung in der Staatskanzlei in Stuttgart:

Zum einen hat Oskar Orth selbst im Februar 1939 auf einem Chirurgenkongress über seine Erfahrungen bei Sterilisationen in Homburg referiert, dort nennt er 800 männliche Sterilisationsopfer und 600 weibliche. Zum anderen hat ein Mitarbeiter von Orth, der Oberarzt Strouvelle, ebenfalls 1939, eine medizinische Doktorarbeit geschrieben über Zwangssterilisationen an Frauen in Homburg, und er nennt die Zahl von 630 weiblichen Sterilisationsopfern. Insofern kann man von diesen Eckwerten - 800 Männer, 630 Frauen - für den Zeitraum von 1935 bis Anfang 1939 ausgehen.

Mit einer Magisterarbeit über Zwangssterilisationen im Saarland und als freier Mitarbeiter der Saarbrücker Zeitung bringt Christoph Braß Anfang der Neunziger Jahre die Diskussion um Oskar Orth ins Rollen. Auf diesen Namen stößt er zufällig, als er bei seinen Recherchen im Landesarchiv feststellt, dass die dort noch erhaltenen Operationsprotokolle über Zwangssterilisationen zumeist von Orth unterschrieben sind. Damit ist auch davon auszugehen, dass Orth selbst das Skalpell geführt hat.

[Christoph Braß]

Laut Gesetz war ausschließlich der Operateur, nicht der Klinikdirektor, zur Unterschrift verpflichtet.

Doch Braß ist Wissenschaftler und will genau wissen, ob Orth selbst operiert hat. Er beantragt Einsicht in die Operationsbücher aus den Dreißiger Jahren, die sich im Archiv der jetzigen Uniklinik in Homburg befinden. Doch da stößt er auf Widerstand. Hier beginnt eine seltsame Vertuschungsgeschichte.

[Christoph Braß]

Ich habe 1991, bevor ich mit meiner Magisterarbeit über Zwangssterilisationen begonnen habe, bei der Uniklinik angefragt, wie bei anderen Kliniken auch, und mir wurde damals mündlich mitgeteilt, dass es solche Fälle in Homburg nicht gegeben habe. Nachdem ich in anderen Archiven Hinweise auf Homburg gefunden habe, habe ich wiederholt angefragt, bin aber regelmäßig abgespeist worden, zuletzt mit der Begründung, das mache zuviel Aufwand, diese Akten herauszusortieren.

Gut, dass es andernorts Kopien gibt.

[Christoph Braß]

Ich habe dann später, auch was das Thema Euthanasie angeht, mit dem ich mich auch beschäftige, unter anderem bei der Gauck-Behörde Durchschläge von Homburger Krankenakten gefunden; insofern verdichtet sich das Bild über die Beteiligung der Klinik Homburg auch ohne die Akten, die man dort vor Ort hat.

Hilfreich bei der Recherche über Oskar Orth wäre auch seine Personalakte; die müsste sich in den Archiven des Gesundheitsministeriums des Saarlandes befinden. Leider ist sie jedoch nicht mehr auffindbar. 

Im März 1994 beschäftigt sich auf Antrag der CDU der Ausschuss für Wissenschaft und Kultur des saarländischen Landtags mit dem Fall Oskar Orth. Regierungsoberrätin Brigitte Schmidt-Jähn, die in der Verwaltung der Homburger Uniklinik arbeitet, recherchiert für die damalige SPD-Landesregierung. Auch sie findet die Personalakte von Oskar Orth nicht. Aber sie erhält Einblick in die Bücher, die man Christoph Braß vorenthielt, in die Homburger Operationsbücher aus den Dreißiger Jahren. Im Protokoll der Ausschusssitzung vom 3. März 1994 heißt es, dass aus diesen Büchern hervorgehe, ...

[Sprecher]

... dass von 1935 an in erheblichem Umfange Sterilisationen durchgeführt worden seien, und zwar offensichtlich aufgrund von Urteilen von Erbgesundheitsgerichten im Saarland und in Rheinland-Pfalz.

Frau Regierungsoberrätin Schmidt-Jähn hat laut Protokoll die Operationsbücher durchgesehen und dabei ...

[Sprecher]

... festgestellt, dass Sterilisationen von Dr. Orth und anderen Ärzten durchgeführt worden seien.

Genauere Angaben macht sie leider nicht. Doch das ist der Beweis: Oskar Orth hat auch selbst operiert!

Drei Jahre nach dieser Sitzung des Wissenschaftsausschusses des Landtags entbrennt eine Diskussion in Homburg; dort war Orth wie in Ensheim Ehrenbürger und auch dort gab es eine Oskar-Orth-Straße ebenso wie einen städtischen Wissenschaftspreis, der nach Orth benannt war. Im Juni 1997 entscheidet der Homburger Stadtrat, die Oskar-Orth-Straße umzubenennen. Der Wissenschaftspreis war schon 1993 umbenannt worden. Und in Ensheim? Viele sagen, sie hätten gar nicht gewusst, dass es dort eine Oskar-Orth-Straße gebe. Anette Hübinger, Bezirksbürgermeisterin:

Als in Homburg die Diskussion lief und man den Straßennamen, äh, umbenannte, war das öffentliche Interesse wohl plötzlich verloren gegangen und keiner hat sich mehr um diese Materie gekümmert und auch keiner hat nachgeschaut anscheinend, wo überall noch Oskar Orth als Straßennamen vertreten ist.

Wirklich nicht? Hübinger selbst findet den Beweis, dass das nicht stimmt. Passenderweise findet sie, die CDU-Frau, den Beweis, dass ausgerechnet die Leute von der SPD die Oskar-Orth-Straße in Ensheim doch schon entdeckt hatten. Öffentlich will sie diesen Beweis bei der Bezirksratssitzung am 8. August 2001 vortragen, nachdem der Beschluss zur Umbenennung der Straße gefasst ist:

Ich möchte aber auch, nachdem jetzt hier die Oskar-Orth-Straße umbenannt wurde, eine Erklärung dazu abgeben.

Per Zufall stieß ich dieser Tage in einer Akte auf eine Fotokopie. Es handelt sich um eine Fotokopie eines Zeitungsartikels über die Straßenumbenennung Oskar Orth in Homburg, "SZ" vom 4.7.1997, mit Eingangsstempel des Bezirksamtes Halberg [Proteste der SPD] - Juli 1997  [Zwischenruf aus den Reihen der SPD] Bitte? [kurze Diskussion zwischen Hübinger und einem Mitglied der SPD] ... Nein, ich gebe eine Erklärung ab. 

Von Seiten der SPD will man der CDU-Bezirksbürgermeisterin das Wort abschneiden, mit Hinweis auf die Geschäftsordnung des Bezirksrats, die keine Erklärungen nach Beschlussfassung zulasse. Im Publikum wedeln die anwesenden Bürger mit der Hand vor dem Kopf, als ob wollten sie sagen: Sind doch alle plemplem! Hübinger spricht trotzdem weiter, und da verlässt die SPD-Fraktion geschlossen die Güdinger Festhalle. Sie will offenbar partout nicht hören, dass Hübinger eine bedeutsame handschriftliche Anmerkung an einem Artikel aus der Saarbrücker Zeitung aus dem Jahr 1997 gefunden hat. Der Artikel trägt die Überschrift: Oskar-Orth-Straße gibt es nicht mehr! Gemeint ist die in Homburg.

[Anette Hübinger fährt fort]

 Handschriftlich am Rand ist vermerkt: Aber noch immer in Ensheim. <Ausrufezeichen> Weiter ist vermerkt: Fotokopie an Bezirksbürgermeister A. Mohr, Vorstand A. Wilhelm, Gruß M. Schöneich. Martin Schöneich ist der Geschäftsführer der SPD-Stadtratsfraktion. Damit steht fest, dass die damals Verantwortlichen im Bezirk Halberg und auch in der Stadt Saarbrücken sehr wohl von der Existenz einer Oskar-Orth-Straße wussten. Äußerungen des Oberbürgermeisters in der "SZ" im Oktober und November 2000, wie "Ich bin erschüttert, wir können und werden nicht dulden, dass in unserer Stadt Straßen nach NS-Verbrechern benannt sind" und "Es ist bedauerlich, dass wir in Saarbrücken erst so spät von den Vorwürfen erfahren haben" sind nun in einem anderen Licht zu sehen.

Unwissen kann also der Grund nicht sein, aus dem die Ensheimer ihre Oskar-Orth-Straße so lange in Ehren hielten. Aber was dann? Erst als im Oktober 2000 die Saarbrücker Zeitung einen Artikel zu der Straße schreibt, löst sie damit eine neue Diskussion aus. Und die wird dann geführt, als habe es die Magisterarbeit, den Landtagsausschuss 1994, einen zweiten Landtagssausschuss 1997 und dann die Straßenumbenennung in Homburg 1997 nie gegeben. Anette Hübinger:

Vielleicht auch etwas Scheu der Bürger, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. 

Vielleicht? Da hat die Saarbrücker Zeitung dann nachgeholfen: die Zeitung hat sich plötzlich stark gemacht für die Umbenennung der Ensheimer Straße. Der Leiter der Saarbrücker Lokalredaktion Dieter Gräbner:

Also es geht uns nicht darum, eine Generation oder vielleicht eine Einzelperson in Misskredit zu bringen. Es geht uns darum, dass es meiner Meinung nach nicht sein kann, dass auch ein verdienter Bürger in Ensheim, ... nach dem eine Straße benannt wird, wenn er in also eine derartig schlimme Episode verstrickt war. Es geht ja darum, dass im Landeskrankenhaus Hunderte von Sterilisationen durchgeführt wurden und Herr Dr. Orth, der Leiter dieses Krankenhauses war und somit die Verantwortung trägt, egal, ob er selbst das Messer angelegt hat oder nicht.

Am 18. Mai 2001 schreibt Gräbner einen Artikel, der die Saarbrücker CDU ganz offenbar zur Kehrtwende bewegt - obwohl er gar nichts Neues enthält. Gräbner zitiert darin aus der Doktorarbeit des Karl Strouvelle. Strouvelle war 1939 Oberarzt am Landeskrankenhaus in Homburg, unter Oskar Orth und beschreibt Erfahrungen bei der Sterilisation weiblicher Erbkranker aufgrund von 630 Fällen des Landeskrankenhauses von Homburg-Saar. Drei Frauen kamen dieser Doktorarbeit zufolge zwischen 1935 und 1938 bei der Sterilisation ums Leben; die jüngste war fünfzehn Jahre alt. Gräbner spricht in seinem Artikel davon, dass dieses Dokument nun aufgetaucht sei. Er wertet die Zahlen als neuen Zündstoff in der Debatte und verschweigt, dass Christoph Braß diese Doktorarbeit schon Anfang der Neunziger in seiner Magisterarbeit ausgewertet hatte und die enthaltenen Fakten so auch schon Gegenstand der Homburger Diskussion gewesen waren. Doch der Artikel hat die gewünschte Wirkung: Vier Tage später, am 22. Mai 2001, kann die Saarbrücker Zeitung melden, dass aufgrund ihrer Berichterstattung der damalige Vorsitzende der CDU-Fraktion im Saarbrücker Stadtrat, Gerd Bauer, dem Bezirksrat Halberg empfehlen hat, die Oskar-Orth-Straße in Ensheim umzubenennen. Und dann, Anfang Juni, nutzt der CDU-Finanzminister und Saarbrücker Kreisvorsitzende, Peter Jacoby, das Blatt, um in das gleiche Horn zu blasen.

[Peter Jacoby]

Es macht ja keinen Sinn, an Straßennamen festzuhalten, wo sich, äh, eingedenk der Faktenlageeine zwangsläufig kritische Diskussion in der Öffentlichkeit auf Dauer ergeben muss, und von daher ziehen wir die Konsequenzen.

Auch wenn es niemand laut sagen will: Die Bezirksbürgermeisterin Anette Hübinger hat von der Saarbrücker CDU einen eindeutigen Marschbefehl in Richtung Straßenumbenennung erhalten. Nur - warum? Eine plötzliche Herzensangelegenheit der CDU in Saarbrücken? Vielleicht. Oder doch eher Angst vor einer negativen Presse? Vielleicht standen aber auch koalitionstaktische Gründe hinter diesem plötzlichen Eintreten für die Straßenumbenennung. Öffentlich wird spekuliert, dass die CDU den kleinen, neuen Koalitionspartner im Saarbrücker Stadtrat, die Grünen, zufrieden stellen will. Kajo Breuer, der Fraktionssprecher der Grünen, hält sich in dieser Frage bedeckt, nur soviel:

Ich denke schon, dass wir eine Rolle gespielt haben insofern: wir haben immer eine glasklare Position in dieser Frage vertreten, und wir haben, als es darum ging, jetzt sich mit der CDU um Inhalte oder auf Inhalte zu verständigen, hammer von vorneherein klar gemacht, dass mit uns das Festhalten an einem solchen Namen und eine solche sozusagen nachträgliche Ehrung auch nicht möglich ist. Das hat da keines Drucks bedurft, weil wir haben einfach unsere Position ganz klar gemacht, und ich denke, die CDU hat dies auch so verstanden.

Der Umgang mit der NS-Vergangenheit - alles nur ein politisches Spiel? Wie auch immer: Der name Oskar Orth wird nicht mehr ehrenhalber auf einem Ensheimer Straßenschild leuchten! Weil Peter Jacoby, CDU-Finanzminister des Saarlandes und Saarbrücker Kreisvorsitzender, es so will:

Ich will meine Rolle jetzt nicht überbewerten... äh... Nach einem nicht einfachen Diskussionsverlauf, nach unterschiedlichen Stadien in der Diskussion, nach der Bereitschaft aller Beteiligten, auch bisherige Standpunkte nochmal kritisch zu, äh, betrachten und zu hinterfragen, sind wir jetzt, äh, der Auffassung, dass doch im Lichte dessen, was zutage befördert worden ist, die Person und das Wirken von Oskar Orth, äh, jedenfalls es nicht rechtfertigt, dass ein Straßennamen nach ihm benannt wird. Das ist unsere gemeinsame Position und die werd...  wird jetzt entsprechend umgesetzt.

Dass diese "gemeinsame Position" jetzt umgesetzt wird, das kommt bei einigen Ensheimern erwartungsgemäß gar nicht gut an. Engelbert Schweitzer, Mitglied der Ensheimer Geschichtswerkstatt:

Und dann isses doch 'n Kinderkram, 'a isch Kinderkram, sich darüber aufzuregen. Die Straße hadd schdigga sechs oder siwwe Wohnhäuser, wohne vielleicht fuchzeh Leut drin. Sunschd, weiter, isch die Straße nidd unn die Straße wurde ja von der Gemeinde Ensheim, vom Gemeinderat von der Gemeinde Ensheim, wurde er ja zum Ehrebürja ernannt. Und nicht von der Stadt Saabrigge. Warum kimmadd sich die Stadt Saabrigge in jeeda Gelegenheit um Ensheim?

Auch Friedrich Binkle aus Ensheim ist erbost, weil er hier den langen Arm der Saarbrücker eingreifen sieht, die es den Ensheimern mal wieder zeigen wollen:

Diese Polidigga haben Ensheim nun schon zum zweitenmal verraten. Einmal bei der Gebietsreform, als die Ensheimer nicht zu Saarbrücken wollten, und jetzt in Sachen der Oskar-Orth-Straße. Nur um höhere Posten, gutbezahlte Posten zu erreichen, haben die über Nacht ihre Meinung geändert. Kein Wunder, dass kein Mensch mehr wählen geht.

Friedrich Binkle war einer der vielen Ensheimer, die sich in Leserbriefen an die Saarbrücker Zeitung zu Wort gemeldet haben. Bezirksbürgermeisterin Hübinger hat sie alle gelesen; sie kennt ihre Ensheimer:

Es gibt so'n Lokalpatriotismus bei den Ensheimern; den Ensheimern ist die Gebietsreform, der Aufgabe der selbstständigen Gemeinde ungemein schwer gefallen. Es war ja auch eine sehr blühende, prosperierende Gemeinde gewesen, und so nach und nach hat ihnen Saarbrücken alles genommen. Da hört man so die Stimmen: erst das Rathaus, also die Eigenständigkeit, dann das Krankenhaus dann, äh, die Hauptschule und jetzt den Ehrenbürger, ohne dass wir groß gefragt werden. Also vielleicht auch deswegen diese sehr stark emotional geführte Diskussion im Ort und mit einer sehr heißen Debatte, dass die Menschen sagen: Wir möchten auch über unseren Ehrenbürger mitreden und mitentscheiden dürfen.

Abgesehen von den lokalpatriotischen Überlegungen kämpfen Friedrich Binkle und Engelbert Schweitzer aber auch ganz direkt für die Ehre der Person Oskar Orth; sie haben ihn beide als ehrenhaften Mann erlebt. Friedrich Binkle:

Ich war damals ja noch 'n kleiner Junge, aber ich hab, ich sach's jetz mal im Ensheimer Dialekt: ich hab bei ihm e manchi Schmier gäss. Weil äwe in der damalige Zeit, könne sich nur noch wenige dran erinnern, 's Essen ja nicht so happich war und wir waren sechs Kinder zu Hause und da wurde ich des öfteren von der Frau Orth hereingerufen: Komm, Junge, iss erschd mal was! Und das hab ich noch sehr gut in Erinnerung. Ich hab aber auch noch besonders gut in Erinnerung, dass ... äh ... wenn Herr Prof. Dr. Orth nicht gewesen wäre, wäre ich als Waisenkind aufgewachsen. Denn der Herr Prof. Orth hat 1944, in einer Zeit, wo jo auch schon alles nicht mehr so reibungslos funktionierte, äh, dem hier noch anwesenden Arzt zur Seite gestanden bei einer sehr schwierigen Operation, und wenn er nicht ... das nicht getan hätte, wären wir sechs Kinder als Waisenkinder aufgewachsen.

Und Engelbert Schweitzer traf Oskar Orth, als er etwa zehn Jahre alt war und mit seinem Vater spazieren ging:

Und da sachte mein Vadda zum Oskar: Wass ischonn medd dier loss? Du machsch awwa ein schlächdes Gesichd! Unn da sachd däär: Mein, Josebb, also mich schdingd dass, wass doo jedds bei uns läuft, am liebschde wird ich alles hinschmeiße. Awwa ich hammas hien unn häär iwwaleechd: Wänn ich debeibleiwe, kann ich vielleicht moncha vor däär ...äh, Schderilisaddsjoon redde. Unn dass war donn ... dass Thema war demedd beändet. Unn so haddas aach joo auch gehalten, ne: er hadd joo einige von der Schderilisaddsjoon kinne befreie.

Es bleibt unklar, was Engelbert Schweitzer da genau meint. Vielleicht glaubt er, dass Oskar Orth zur Zwangssterilisation verurteilte Patienten oder Patientinnen aus Mitleid zurückgestellt hat? Christoph Braß, der Historiker:

Prof. Orth wurde oder war wie jeder andere Operateur per Gesetz dazu verpflichtet, in den Fällen, in denen die Operation mit Lebensgefahr verbunden war, den Eingriff aufzuschieben. Insofern hat er da kein Widerstand geleistet, sondern seiner gesetzlichen Pflicht Genüge getan. Wenn man sich nun anschaut, wie viele Personen in Homburg zurückgestellt worden sind und wie viele in anderen Kliniken, fällt allerdings auf, dass die Zahl der Zurückstellungen in Homburg vergleichsweise sehr gering war: in Homburg wurden neun von 630 Frauen zurückgestellt, das entspricht 1,4 %; in Frankfurt am Main, wo uns Zahlen vorliegen, gab es 2,1 % Zurückstellungen und in Marburg sogar 3,6. Insofern glaube ich nicht, dass man die Zurückstellungen als eine besondere Form von Widerstand interpretieren kann.

Doch Christoph Braß, der bald seine Dissertation zum Thema "Zwangssterilisation und Euthanasie im Saarland" veröffentlichen wird, kann sagen, was er will; die Verteidiger Oskar Orths, Hobbyhistoriker wie Friedrich Binkle und Engelbert Schweitzer, wollen ihm ganz einfach nicht glauben:

[Friedrich Binkle]

Ich befass mich auch mit geschichtlichen Dingen hier im Ort und gelegentlich auch entsprechende Nachforschungen und bei allem, was ich herausgefunden hab, ist Herrn Prof. Orth nichts nachzuweisen in dieser Richtung. Ha, dieser, ich sa...,  sach's bewusst jetzt, dieser sogenannte Historiker Braß hat nicht einen einzigen Beweis.

[Engelbert Schweitzer]

Däär Doggda Orth hadd bei einem Fall selbschd mitgewirgd, aber ma muss die Sache sehn, wie sie isch: däär Doggda Orth war Chefarzt von der Chirurgischen Klinik; es kennte sein, es war ein Notfall, dass ein Arzt, däär die Operation gemacht hadd, ein Fähla gemach hadd, olla 's isch etwas aufgetreten, dassa donn als Nothälfa eingesprunge isch.

Lange haben die Gegner der Straßenumbenennung in Ensheim das Wort geführt, doch dann meldeten sich auch die anderen zu Wort, Gertrud Fickinger zum Beispiel:

Natürlich bin ich Ensheimerin. Ich bin auch gerne Ensheimerin; ich lebe gerne hier, ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, aber das heißt nicht, dass ich Dinge nicht zur Kenntnis nehmen darf deshalb.

Also hat sie sich hingesetzt und auch einen Leserbrief geschrieben, obwohl das sonst gar nicht ihre Art ist:

Überhaupt nicht! Ich glaube, das ist der zweite Leserbrief, den ich in meinem ganzen Leben geschrieben habe, aber es erschien mir einfach notwendig, mich in die Diskussion einzuschalten. Ich habe mich in diese Diskussion eigentlich erst spät eingeschaltet, weil ich gemerkt habe, dass so ein bisschen die Stimmung herrscht zu sagen: Ja, das ist ja alles nicht bewiesen und das war doch alles nicht so! Und da muss ich allerdings sagen, das stimmt leider so nicht! Es ist sehr bedauerlich, dass es nicht so war, wie ich das auch gerne hätte, aber ich muss einfach Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Was einerseits heißt, zur Kenntnis zu nehmen, dass in diesem Fall das Landeskrankenhaus in Homburg und die Person Oskar Orth als damaliger Direktor des Landeskrankenhauses - zwangsläufig geht es dann auch um Personen - in diese Dinge hinein verstrickt waren. Das waren andere auch, das ist keine Frage, aber dass diese Leute da hinein verstrickt waren, das muss ich zur Kenntnis nehmen, was nicht heißt, dass ich Oskar Orth in Grund und Boden verdamme, das tue ich nicht, das kann ich mir nicht erlauben, und, äh, es wird ja immer wieder auch in Ensheim gesagt, dass er sehr viel Gutes auch getan hat, das kann und will ich überhaupt nicht in Abrede stellen, aber ich kann das Gute, das jemand getan hat, nicht gegen das Unrecht und gegen das Leid der Opfer aufrechnen.

Die Zwangssterilisation wurde auf Grundlage des sog. Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführt, das im Januar 1934 in Kraft trat. Die Schätzungen, wie viele Menschen bis 1944 zwangssterilisiert wurden, schwanken zwischen 360.000 und 475.000 Menschen. das entspricht etwa einem Prozent der Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter. Im Saarland wurden knapp 3.000 Sterilisationsverfahren wegen sog. Erbkrankheit eingeleitet, also zum Beispiel wegen Schizophrenie, wegen manisch-depressivem Irresein oder aber auch wegen erblicher Blind- oder Taubheit. In 43 % der Fälle wurde im Saarland die Erbkrankheit des sog. angeborenen Schwachsinns diagnostiziert, eine Kategorie, die der Willkür Tür und Tor öffnete. Die Definition dazu im Gesetzeskommentar:

[Sprecher]

Unter angeborenem Schwachsinn im Sinne des Gesetzes ist jeder in medizinischem Sinne als deutlich abnorm diagnostizierbare Grad von Geistesschwäche zu sehen.

Christoph Braß hat die Sterilisationsfälle, die in der NS-Zeit vor dem Erbgesundheitsgericht in Saarbrücken verhandelt wurden, analysiert und festgestellt, dass es vor allem drei Gruppen waren, denen man angeborenen Schwachsinn zur Last legte: 1. Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, unter ihnen auch politisch Andersdenkende; 2. Menschen, die sozial auffällig waren, also Männer, die zum Beispiel keiner geregelten Arbeit nachgingen oder Frauen, die ihren Haushalt nicht in Schuss hielten. Und dann Personen, die sich nicht an die geltende Sexualmoral hielten. Für sie hatte man eine Unterform der Diagnose angeborener Schwachsinn gefunden, den sog. moralischen Schwachsinn: Mütter von unehelichen Kindern fielen zum Beispiel unter diese Kategorie. Doch das die Zwangssterilisation für die Nationalsozialisten ein Mittel war, um die Autorität des Staates auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig zu sichern, wie es damals formuliert wurde, das wissen heute nur wenige. Dafür gibt es vielleicht eine Erklärung. Christoph Braß:

Der Themenkomplex Zwangssterilisation / Euthanasie, Medizinverbrechen überhaupt, war in Deutschland sehr lange tabuisiert, bis weit in die Sechziger, Siebziger Jahre hinein und ist als Forschungsgegenstand eigentlich ein sehr junger Forschungsgegenstand. Das hängt zum einen damit zusammen, dass es nach dem Krieg eine ziemlich ungebrochene Kontinuität gab, dass eben viele Ärzte nach dem Krieg weiter im Dienst blieben, ganz einfach eben, weil man Ärzte gebraucht hat - das war ähnlich wie bei den Juristen - das waren Funktionseliten, die gebraucht wurden und die dann zum Teil bei der Entnazifizierung auch entsprechend großzügig behandelt worden sind. Zum anderen hängt es aber auch damit zusammen, dass ja auch die Opferseite häufig kein besonderes Interesse daran hatte, dieses Thema in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Sie dürfen nicht übersehen, es war für diese Menschen ja peinlich, oder diese Menschen haben sich ja geschämt, dass man ihnen vorwarf, an einer sog. Erbkrankheit zu leiden. Dann ist die Zwangssterilisation ein Eingriff, der Themenfelder wie Sexualität, Krankheit, Tod berührt, und auch insofern für viele Leute mit einem Tabu belegt ist. Also ich habe in den Achtziger Jahren noch Opfer erlebt, die bis in die Achtziger, Neunziger Jahre hinein mit ihren eigenen Familien nicht über das gesprochen haben, was damals mit ihnen geschehen ist, weil sie sich ganz einfach geschämt haben. Das heißt, es gab in gewisser Weise eine Schweigespirale bei diesem Thema, sowohl auf Seiten der Täter als auch auf Seiten der Opfer.

Das Schweigen der Opfer kennt auch Werner Brill, der Leiter des Adolf-Bender-Zentrums in St. Wendel, das mit seinen Veranstaltungen satzungsgemäß zur Verbreitung demokratischen Bewusstseins und humanistischer Werte beitragen will. Brill hat die Diskussion um Oskar Orth von Anfang an mit großem Interesse verfolgt, und er war es auch, der der Saarbrücker Zeitung immer wieder die Grundlagen der Recherchen für ihre Berichterstattung geliefert hat, zuletzt, als er feststellte, dass die Orthschen Sonderdrucke in Homburg verschwunden waren, ein weiteres Kapitel der Vertuschungsgeschichte:

[Werner Brill]

Ich hab bereits 1991 den Hinweis gefunden, dass es über Oskar Orth eine Sammlung von Sonderdrucken gibt für die Jahre von 1914 bis 1952. Diese Sonderdrucke haben die Signatur G 690 in der Homburger Unibibliothek und ich wollt' mir die im Juni ausleihen und musste dann von der Bibliothekarin erfahren, dass diese Sonderdrucke abhanden gekommen sind, und niemand wusste, ob sie ausgeliehen sind oder nicht. 

Brill verständigt daraufhin die Saarbrücker Zeitung:

Die hat sich dann kundig gemacht und hat mit der Leitung der Bibliothek gesprochen und unter anderem auch drauf hingewiesen, dass man in so einem Fall eigentlich die Kriminalpolizei einschalten müsse, weil es sich um Diebstahl oder beziehungsweise um Unterschlagung von Akten handelt; außerdem ist das Verschwindenlassen von Akten ein Verstoß gegen das saarländische Archivgesetz - und siehe da: innerhalb von einem Tag sind sowohl die Sonderdrucke erstmals aufgetaucht und auch der Hinweis mit der Karteikarte, aus der ersichtlich ist, dass es diese Sonderdrucke überhaupt gibt.

Zeitweise verschwundene Sonderdrucke? Eine auf Dauer verschwundene Personalakte? Und eine Uniklinik, die  einem Historiker keinen Einblick in ihr Archiv gewähren will. Eine Gemeinde, die vor lauter Lokalpatriotismus jahrelang keinen Blick für die historische Wirklichkeit hat. Eine politische Landschaft, in der der Name eines mit Zwangssterilisationen befassten Nationalsozialisten auf einem Straßenschild womöglich zu einem parteipolitischen Spielball geworden ist. Eine Verdrängungs- und Vertuschungsgeschichte, typisch saarländisch? Dieter Gräbner, der SZ-Redakteur:

Der Meinung bin ich nicht! Ich geh' davon aus, dass dieses überall in der Republik passieren kann oder passiert ist.

Vielleicht. Aber nun? Ist die Geschichte mit der schließlich doch noch erfolgten Straßenumbenennung in Ensheim jetzt vom Tisch? Es gibt noch eine Plakette am Ensheimer Rathaus, dem Ehrenbürger Oskar Orth gewidmet; die müsste entfernt werden. 

Es gibt auch noch einen Oskar-Orth-Brunnen, der umbenannt werden müsste. Und könnte man nicht auch andernorts damit beginnen, die dunklen Löcher der Vergangenheit aufzuarbeiten? Wer würde sich zum Beispiel mal in Völklingen an die Geschichte des viel geachteten Hermann Röchling wagen? Das letzte Wort in dieser Sache soll hier Gertrud Fickinger haben, Bürgerin in Ensheim:

Ich bin allerdings der Meinung, ich kann nur wirklich auf Zukunft hin und in die Zukunft hinein leben, wenn ich mich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe und auch klar gesehen habe, was gut war, was falsch war, was vielleicht auch gefährliche Strömungen waren, in die Leute hineingerutscht sind, ohne dass sie das wollten. Nur manchmal ist es so, dass, wenn eine bestimmte Entwicklung mal eingesetzt hat, sie kaum mehr aufzuhalten ist. Also von daher denke ich, sollte es auch eine Lehre sein, wachsam zu sein, also dieses alte biblische Gebot, wachsam zu sein und die Zeichen der Zeit zu erkennen - auf Zukunft hin.

[Abspann]

Sie hörten: Vertuschungsgeschichte. Der lange Weg zur Umbenennung der Oskar Orth-Straße. Eine Feature von Anke Schäfer.


Quellen: 


Zurück zum Anfang des Dokuments

Zur Hauptseite über Prof. Dr. Orth

Zur Quellenauswahl zur Kontroverse wg. Dr. Orth

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zur Mindmap

Zum nächsten Kapitel: "Das Ensheimer Schulwesen"



eMail an den Webmaster

© Paul Glass 1997 - 2001 ff

Last update: 04.09.2001